Spätestens seit dem Mauerfall 1989 waren in Europa gravierende Veränderungen zu verzeichnen, d.h. die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Verflechtungen auch und gerade mit den osteuropäischen Nachbarn nahmen rapide zu, der Bedarf und das Bedürfnis der Menschen nach Verständigung und nach Entdeckung der bisher hinter dem ehemaligen „Eisernen Vorhang“ gelegenen Länder und Regionen stieg mitunter enorm.
Insofern Veränderungen in den beiden gesellschaftlichen Subsystemen Politik und Wirtschaft zwangsläufig zu Veränderungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen, u.a. im Bildungsbereich, führten, erschien es Anfang der Neunziger Jahre daher zunehmend wichtiger, dass Schule als Institution der Gesellschaft möglichst frühzeitig und umfassend auf diese o.a. Dynamik gesellschaftlicher Prozesse pädagogisch zu reagieren versuchte. In diesem Sinne erschien uns eine unterrichtliche und auch außerunterrichtliche Erarbeitung von Informationen über Entwicklungen in einem multikulturellen Europa unabdingbar: politische, wirtschaftliche, kulturelle, bildungspolitische Informationen usw.
„In welchen Unterrichtsfächern auch immer: Schule, Unterricht verändern sich, seit es in Europa keine Konfrontation der Machtblöcke mehr gibt, wenn Nationalismen relativiert werden, wenn Deutschland sich europäisch orientiert. Solche Veränderungen von Schule und Unterricht geschehen nicht durch Verordnungen, sondern durch Information und Reflexion. Das ist kein curriculares Problem, sondern eine Frage des Bewußtseins von Lehrerinnen und Lehrern, von Schülern und Schülerinnen.“
(Aus: Wege nach Europa, Friedrich Jahresheft IX 1991, S.3)
In dieser Situation konnten (so die Überzeugung der beiden Gründungsleiter der Arbeitsgemeinschaft) gerade der schulische Geschichts- und Deutschunterricht Beiträge dazu liefern, sich mit Einstellungen, Wahrnehmungsstrukturen und Verhaltensmustern, die aus anderen nationalen Traditionen oder anders-kultureller Sozialisation herrühren, auseinanderzusetzen, sei es durch die Entwicklung von Austauschprogrammen (z.B. Austausch Ulricianum – Gymnasium Kepno/Polen) durch regelmäßigen Schüler- oder auch Lehreraustausch in Zusammenarbeit mit potentiellen Partnerschulen, durch Teilnahme an europäischen Projekten (z.B. der Jugendkampagne des Europarates gegen Rassismus, Antisemitismus und Intoleranz 1995), die geeignet waren, durch die Beschäftigung z.B. mit der Geschichte und Literatur Einsicht in die Wechselbeziehungen der kulturellen Systeme, besonders auch innerhalb der europäischen Kultur, zu bewirken.
Auslöser zu diesen Überlegungen waren anfänglich die insbesondere von der Landeszentrale für politische Bildung Niedersachsen und dem Niedersächsischen Landesinstitut für Lehrerfortbildung (NLI Hildesheim) organisierten und durchgeführten Fortbildungen und Studienfahrten nach Polen, an der die beiden Leiter der ersten Projektfahrt 1993/1994, Joao Neves und Michael Timpe, während der Jahre 1993-1995 mehrfach teilgenommen hatten; während dieser Studienfahrten, die über Posen, Thorn, Warschau, Krakau, Auschwitz nach Breslau führten, beschäftigte man sich u.a. mit Fragen der Entwicklung und des aktuellen Standes deutsch-polnisch-jüdischer Geschichte, diskutierte die Perspektiven der deutsch-polnischen Beziehungen nach der Vereinigung Deutschlands u.a. in Gesprächen mit Vertretern der Universität Warschau und der jüdischen Gemeinde Breslaus und Krakaus usw. Von Vorteil für uns war dabei, dass insbesondere zwischen Niedersachsen und der späteren Partnerregion Niederschlesien bzw. der damaligen Woiwodschaft Breslau seit Mitte der Siebziger Jahre bereits engere Kontakte im kulturellen, wissenschaftlichen und Bildungsbereich bestanden, nicht zuletzt auch gefördert durch den früheren Landtagspräsidenten und gebürtigen Breslauer Horst Milde, der zugleich langjähriges Mitglied der Jury des alljährlich in Breslau verliehenen „Kulturpreises Schlesien des Landes Niedersachsen“ war.
Im Zusammenhang mit einer Stadtexkursion Breslaus fand während dieser Studienfahrten u.a. auch der Besuch des Alten Jüdischen Friedhofs in Breslau (Wroclaw) statt, gefolgt von einem Vortrag bei der Stiftung Kreisau/Krzyzowa und begleitet von Gesprächen mit Studentinnen, Studenten und Dozenten der Universität Wroclaw (Breslau).
Angesichts des stark restaurierungsbedürftigen Zustandes des Alten jüdischen Friedhofs und angeregt durch die unter Anleitung des Kurators Maciej Lagiewski durchgeführten Restaurationstätigkeiten zweier Schulklassen aus Berlin (die im Übrigen Anfang der Neunziger Jahre als einzige bisher Restaurationsarbeiten von deutscher Seite aus durchgeführt hatten!), entwickelte sich vor diesem Hintergrund auf unserer Seite die Idee, zusammen mit den von uns unterrichteten Schülern selbst einen Beitrag zur Wiederherstellung dieses Friedhofs zu leisten. Unterstützt wurde diese Idee dabei insbesondere von Herrn Dr. W. Dempwolff (Landeszentrale für Politische Bildung Niedersachsen) und von Herrn Ballof, dem Vorsitzenden des Geschichtslehrerverbandes.
Nachdem ab dem Jahre 1995 mit Helmut Ubben als Religionslehrer das bisherige Leitungsteam erweitert werden konnte, ergab sich schließlich die weitere Möglichkeit, neben den thematischen Schwerpunkten des Geschichts- und Deutschunterrichts auch im Religionsunterricht zusammen mit Schülerinnen und Schülern ethisch-moralische Fragestellungen zu Aspekten des „guten Lebens und guten Verhaltens“ (s. Brecht, Der gute Mensch von Sezuan) sowie wichtige Hintergrundinformationen über die Zeit des Dritten Reiches/des Nationalsozialismus zu erarbeiten, die für die geplante Durchführung weiterer Projektfahrten besonders wertvoll und auch erforderlich waren (u.a. Milgram-Experiment: Film „Abraham“ des Landesfilmdienstes; Merkmale des autoritären Charakters; Biographie des KZ-Kommandanten von Auschwitz etc.; in Ansätzen: Freudsches Persönlichkeitsmodell).
In Gespräch mit Schülerinnen und Schülern, Angehörigen der Landeszentrale für politische Bildung Hannover, des Deutsch-Polnischen Jugendwerkes und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Ostfriesland konkretisierte sich für die beiden ursprünglich verantwortlichen Fachlehrer und AG-Leiter Neves und Timpe im Laufe des zweiten Schulhalbjahres 1993/94 die Überlegung, nicht nur theoretisch zu arbeiten, sondern diese Unterrichtsthemen zu einem praxisorientierten Projektthema „Der jüdische Friedhof in Wroclaw/Breslau“ auszubauen. Kernidee dieses Projekts sollte dabei sein, das Projekt nicht in der Schule, sondern im Zielland „Polen““ selbst durchzuführen, denn:
„Es geht darum, Schüler in einem besonders aufnahmefähigen Alter für andere … Kulturen zu sensibilisieren, also um interkulturelles Lernen im Zusammenhang mit personalen Begegnungen (Begegnungssprachen-Konzept). Es soll Offenheit für Fremdkulturelles erzeugt ud damit der Baustein für den Erwerb einer Internationalismuskompetenz gelegt werden. In der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Begegnungen wird ein kulturkundliches Wissen erworben, auf das die weiterführende Schule zurückgreifen kann.“
Unterstützt durch die Deutsch-Israelische Gesellschaft, durch die Stiftung Kreisau (Haus Angelusa Silesiusa Wroclaw) usw. gelang es im Juli des Schuljahres 1993/1994 schließlich erstmals, ein diesbezügliches Projekt in Wroclaw und Auschwitz in durchzuführen). Die während dieser ersten Projektfahrt gemachten positiven Erfahrungen führten Anfang 1995 schließlich dazu, dass sich eine schulische „Arbeitsgemeinschaft Polen“ gründete, deren hauptsächliches Ziel (unterstützt durch Helmut Ubben als weiteren AG-Leiter) es war, die nachfolgenden Projektfahrten inhaltlich vorzubereiten.
Während seines Seminaraufenthaltes an der Universität Wroclaw vom März/April 1995 hat Herr Timpe zudem enge Kontakte zum XIII. Liceum Wroclaw, ul. Hauke-Bosaka 33, knüpfen können, die in der Folgezeit neben dem Schwerpunktprojekt „Jüdische Friedhöfe Breslau“ zur Entwicklung zweier weiterer Schwerpunkte einer deutsch-polnischen Zusammenarbeit führen sollten.
Insofern kann das Projekt „Jüdische Friedhöfe“ als Initialprojekt für die Weiterentwicklung zu einer intensiven deutsch-polnischen Zusammenarbeit bezeichnet werden, nämlich durch Kooperation mit dem bilingualen XIII. Liceum Wroclaw und der Entwicklung eines (eigenständigen) projektorientierten Schüleraustauschprogramms ab 1997/98 (zunächst begleitet und betreut durch die polnische Gruppe der Fachlehrer/-innen Elzbieta Graf, Magdalena Synal und dem Bayreuther Landesprogrammlehrer Karl H. Rueth, später Renata Tutak, Beata Janczewska, Marta Olszewska usw.). Im Rahmen des Austauschbesuchs anlässlich des 350-jährigen Jubliläums des Gymnasiums Ulricianum kam es ab 1997 bzw. 1999 zudem zur Mitarbeit der polnischen Schule am Europäischen Comeniusprojekt (betreut durch Malgorzata Wiater), ebenfalls koordiniert durch das Gymnasium Ulricianum Aurich.
Grundlage all dieser Formen der Zusammenarbeit stellte dabei das nach der Pensionierung Joao Neves‘ durch Herrn Timpe entwickelte Konzept eines Deutsch-Polnischen Begegnungsrahmens dar, das projektbezogene Kooperationen auf unterschiedlichsten Ebenen beinhaltete, d.h. Projekte unterschiedlichster Zeitebenen Vergangenheit (Gedenkstättenprojekt), Gegenwart (Austausch) und Zukunft (Comenius/Europa) miteinander zu verknüpfen suchte.